Utopien im Grünen WAS KOMMT NACH DER STADT?

 

55 Prozent der Deutschen leben im ländlichen Raum. Für rund 45 Millionen Menschen hierzulande bedeutet er weit mehr als nur „Natur“ und „Naherholung“. Er ist ihre Heimat. Hier leben und hier arbeiten sie. Manche davon sind seit Generationen dort verwurzelt, andere haben sich neu eingelebt. Attraktive Lebensräume, sollte man allein mit Blick auf die Zahlen meinen. In der Realität aber droht vielen davon das Aus. Sie verkommen zu Orten, an denen immer weniger gelebt als vielmehr gestorben wird. Weil es ihnen allerorts an Ärzten, Schulen, breitgefächerte Ausbildungsperspektiven oder Verkehrsanbindungen fehlt. Von einer fußläufigen Bedarfsdeckung, (vielfältigen) Kulturangeboten oder zumindest einem Kino in erreichbarer Nähe ganz zu schweigen. Selbst schnelles Internet ist noch nicht flächendeckend angekommen. Dem Sog der Großstädte, dem vor allem die Jungen, folgen, kann der ländliche Raum damit wohl kaum etwas entgegensetzen.

Stadt und Land scheinen damit im Antagonismus zueinander zu stehen. Oder werden zumindest in Zukunftsprognosen oftmals als Widerspruch formuliert. Und doch tut sich was. In Wirklichkeit nämlich, rückt das Landleben immer mehr auch in den Fokus eines urban geprägten Milieus. Weil es in den Großstädten mit jedem Jahr voller, beengter und vor allem teurer wird. Aber auch darüber hinaus finden sich Gründe genug: Luftqualität durch Feinstaub und überhöhte Stickoxidwerte, verkehrsbedingte Lärmbelastung und mangelnder Naturausgleich zum Beispiel. Und die vielerorts vorherrschende Anonymität in Retortenbauten findet auch nicht jeder gut. Kaum verwunderlich also, dass die sieben größten deutschen Städte 2014 erstmals ein negatives Wanderungssaldo zu verzeichnen hatten. Ein Trend, der nun auch noch durch Corona befeuert werden dürfte. Trubel, Vielfalt, pulsierendes Leben mit zahlreichen zufälligen Begegnungen – all das, was Großstädte neben Ausbildungs- und Arbeitsplatzchancen bislang attraktiv machte – gilt nunmehr als Hot-Spot im wahrsten Sinne des Wortes: als Brennpunkt oder möglicher Gefahrenherd.

CONTEMPORARY CONSUMERS WITH CONTEMPORARY NEEDS

 

 

 

AGORA 4.0: VON DER ORTS ZUR LEBENSMITTE

Kleinstädte und Dörfer sind damit bei vielen Deutschen so beliebt wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Und das längt nicht nur, weil sich die meisten mehr Platz, mehr Natur, Arbeits- und ein eigenes Zimmer für alle eben nur außerhalb der großen Städte leisten können. „Auch die verstärkte Suche nach Ursprünglichkeit, Authentizität sowie ökologischer und handwerklicher Produktion, vor allem aber nach Gemeinschaft, Solidarität und Zusammenhalt trifft dort in der Regel auf größeren Widerhall“, fasst der Retail-Experte seine Beobachtungen zusammen. Nicht zuletzt deshalb glaubt er fest daran, dass es möglich ist, das Landleben neu zu erfinden. „Die Zeit vitalisierter Dörfer als Rückgrat des ländlichen Raumes ist jetzt. Denn die Weichen zwischen herrlicher Ruhe und geisterhafter Stille werden wahrscheinlich kein drittes Mal gestellt.“, prognostiziert Christoph Stelzer. Für ihn geht es darum, den altertümlichen Mythos des Marktplatzes wieder zu beleben. Die Agora 4.0. Einen für alle schnell erreichbaren Ort des persönlichen Kontaktes, an dem Emotionen, Ideen, Dienstleistungen und Waren ausgetauscht werden. In dem zugezogene, urban geprägte ebenso wie alteingesessene Familien, junge wie ältere Menschen, den Brückenschlag zwischen Selbstbestimmtheit, Individualität und Gemeinschaft, aber auch zwischen Convenience und Experience finden. „Erst, wenn die Dorf- wieder zur Lebensmitte wird, kehrt auch das Leben dorthin zurück.“, ist sich der Agenturchef sicher. „Schließlich zieht nur Leben weiteres Leben, sprich Menschen, an. Das hat jeder im Kleinen schon einmal erlebt, der etwa beim Kauf der Sonntagsbrötchen die Wahl zwischen einer menschenleeren Bäckerei und einer mit Hochbetrieb hatte.“

Alte, leerstehende Gemäuer für frische Ideen gäbe es im ländlichen Raum genug. Jene sanierungsbedürftigen und bislang kaum vermittelbaren Schmieden, Mühlen, Klosteranlagen und Landgüter, die von untergegangener Lebenskultur zeugen. Aber auch die halb verfallenen Fabriken, Schulen, Krankenhäusern oder sogar Plattenbauten. Sie und nicht beliebige Neubauten sind es, die eine seelische Resonanz erzeugen und neben Platz zum Wohnen jenseits von Doppelhaushälften und Einfamilienhäusern zudem auch Raum für neue Impulse und Konzepte bieten. Nun braucht es proaktive Bürgermeister, Gemeinderäte, Stadtplaner, Architekten, pensionierte Fabrikanten und Handwerker, wohlmeinende Förderer sowie Bewohner jeden Alters, die ländlichen Gemeinden gemeinsam zurückgeben, was dort über die Jahre verloren ging. Ein für jedermann offenes, reges und dynamisches Quartier nämlich. Eines, dass es – im Hier und Heute angekommen – mit modernen, hybriden und fluiden Wohn-, sowie Arbeits-, Handels- und Dienstleistungsangeboten zu füllen gilt. Das Augenmerk dabei liegt auf innovativen Formaten mit Relevanz für die Bewohner. „Schließlich bedeutet Renaissance immer auch, mit Ideen und Ansätzen zu experimentieren.“, wie Christoph Stelzer meint.

SUBURBAN HOTSPOTS WITH INTERNATIONAL STANDARDS

 

 

 

GLOBALE DORFBEWOHNER

Mit einer offenen Markthalle nach mediterranem Vorbild etwa, zur Verbesserung der Grund- und Nahversorgung und als niederschwellige Knotenpunkte der Begegnung, des Austauschs und des nachhaltigen Konsums. Dazu gehört natürlich ein Sortiment aus Fleisch- und Wurstwaren, Eingekochtem, Käsereiprodukten, Weinen und Säften, Obst und Gemüse oder aber frischen Backwaren, das regionalen Erzeugern die Möglichkeit eröffnet, ihre Waren aus handwerklicher (Bio-)Produktion direkt von Hof und Backstube auf die heimischen Tische zu bringen. Warenbestellung per Telefon und Lieferservice für ältere Mitbürger selbstredend inbegriffen. Dazu gehören aber auch kleine Stände beziehungsweise Flächen mit selektierten Angeboten für Groß und Klein. Solche, die inzwischen eigentlich nur noch in der Stadt oder im Netz zu beziehen sind: hochwertige Naturkosmetik, Schmuck, ausgewählte Spielsachen und Papeterie-Artikel, Mitbringsel oder Fashion- und Wohnaccessoires zum Beispiel. Oder aber seltene Tee-, Kaffee- und Kakaomischungen sowie Manufakturschokolade. Experimente sind dabei erlaubt und sogar erwünscht, denn denkbar ist, was ankommt. Vor allem aber, was sich abseits beliebig reproduzierbarer Massenware bewegt. Darüber hinaus gehört zur Agora 4.0 aber noch mehr als nur individuelle, lokale Handelsformate. Mehrgenerationentreffpunkte mit vielfältigen Angeboten von Lesenachmittagen für Kinder, Hausaufgabenbetreuung, Computernachhilfe für Senioren, Gesundheitsservices oder einem Repair-Café zum Beispiel. Ebenso wie der kleine Buch- und Zeitschriftenladen, der auch die Paketannahme und das Café mit Leseecke betreibt. Oder anmietbare Coworking-Spaces bzw. New-Work-Konzepte für Einheimische und darüber hinaus die gesamte Region genauso wie für Erholung suchende Gäste. Es geht aber auch um temporär anmietbare Räume für Vereine ebenso wie Kunst-, Kultur-, Sharing- Caring-Formate. Flexibel und/oder gemeinsam nutzbare (Handels-)Flächen für beispielsweise temporäre Pop-Up-Projekte, die insbesondere kleinen Selbstständigen, (Kunst-)Handwerkern, Freiberuflern oder DIY-Communities vollkommen neue Möglichkeiten eröffnen. Und die dafür sorgen, dass die Adern des Ortskerns immerzu agil und spannend bleiben. Ein Ort im Fluss, vor allem aber eine Mitte, die vielfältigste Bedürfnisse erfüllt und über die Kernfunktion der Nahversorgung hinaus jedem, der möchte, interessante Begegnungen jenseits der eigenen vier Wände verschafft – ganz einfach, weil dort vitale Adern sind.

„Urban inspirierte Lebensqualitäten mit (digitaler) Vernetztheit, Diversität, Weltoffenheit und Kreativität müssen nicht länger das Monopol der großen Städte sein. In den Köpfen der Menschen bilden globale und regionale Identitäten schon längst keinen Widerspruch mehr. Im Gegenteil, sie ergänzen sich. Warum also nicht auch an physischen Orten?“, erläutert der Retail-Experte seinen Ansatz. „Schon allein, weil sich immer weniger Bewohner mit einer lückenhaften Versorgung egal welcher Art oder der reinen Bedarfsdeckung über die grüne Wiese abfinden wollen und werden.“ Denn eigener Garten hin, viel Freiraum und Natur vor der eigenen Tür her – das neue ländliche Lebensideal wird in den Köpfen der Menschen in den seltensten Fällen als reines Wohnprojekt oder gar Schlafgemeinde in der Neubausiedlung geplant. Es braucht daher mehr als nur Naturnähe oder aber Digitalisierung samt stabilem Internetzugang, um die ländliche Region zu neuer Blüte zu führen. Es braucht vor allem Menschen mit Ideen. Solche, die willens sind, ihn kreativ zu füllen. Kommunale Visionäre und engagierte Einzelpersonen, die mit ihrer Begeisterung vermögen, andere anzustecken. Nur wenn der vielfältige Dreiklang aus Wohnen, Arbeiten u n d Leben stimmt, wird das Comeback des Dorfes auf Dauer gelingen. Dafür haben ländlichen Gegenden mannigfaltige Chancen – sie müssen nur erkannt und von Pionieren mutig vorangetrieben und umgesetzt werden.

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Christoph Stelzer

Managing Director
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